Was es heisst, Mensch zu sein
26.9.18
Michiel Vandevelde über seine Performance Human Landscapes - Book I.
Der Student
(er hatte aus der Entfernung zugehört)
empfand ein verwirrtes Leid,
dann ein wütendes Mitleid.
Dann dachte er:
„Schade,
wie schnell sie verzeihen ...”
Und dachte weiter:
„Wie eine Art Fische,
wie eine Art Bäume,
wie eine Art Erze,
so lebt in unserem Land eine Art Menschen,
deren erzählenswürdige
und unvergessliche Erinnerung:
die Kriege."
Und dachte weiter:
„Bin ich so mutig, dass ich in einem Schützengraben
auf den Tod warten könnte?
Waren die meisten der Wartenden und Sterbenden
mutig?
Und sind auch die heute Wartenden und Sterbenden
alle mutig?
Hat das etwas
mit Mut zu tun?
Oder sind die in den Schützengräben
eine Herde,
die mit ihren Hirten zum Schlachter laufen?
Sie sind nicht nur körperlich darauf gefasst,
sondern auch mit dem Bewusstsein ...
Oder täusche ich mich?
Es könnte solche Schützengräben geben
(für mich zum Beispiel),
dort könnte ich glücklich sterben.
Ich sage es jetzt ganz ehrlich,
aber wenn dieser Tag käme,
und ich, bevor ich sterbe,
ein paar Stunden verwundet weiterleben müsste,
würde ich es dann nicht bedauern?"
Der Student konnte nicht mehr weiterdenken.
Michiel Vandevelde im Gespräch mit Ekaterina Degot und Katalin Erdödi
Ekaterina Degot: Woher kommt dein Interesse für Nâzım Hikmet? Ich habe mich sehr gefreut, als ich davon erfuhr. Er ist ein echter Geheimtipp, und die Kenntnis seines Werks verbindet meist sehr besondere Menschen.
Michiel Vandevelde: Das stimmt, er ist in Europa nicht so bekannt, jedenfalls weniger als in anderen Teilen der Welt. Ich habe sein Buch Menschenlandschaften als 16-Jähriger von meinem Vater bekommen. Seither trage ich es mit mir herum und lese immer wieder darin. In den vergangenen fünf Jahren habe ich mich mit dem Begriff der Wiederaneignung und mit Techniken der digitalen Welt beschäftigt. Doch irgendwann kam ich an den Punkt, wo mir schien, dass man dieses ganze Gerede über Technologie am besten auf sich beruhen lässt und sich stattdessen lieber wieder der Frage zuwendet, was das Menschsein bedeutet. Das war der Moment, an dem ich die Menschenlandschaften erneut zur Hand nahm und beschloss, alle fünf Bücher beginnend mit dem ersten über einen längeren Zeitraum zu erarbeiten oder zu inszenieren. Der Titel sagt schon, worum es in dem Werk geht. Es bietet Ansichten und Ausschnitte aus dem Leben der Menschen. Beinahe wie ein Film wechselt es zwischen Nahaufnahmen einzelner Personen, größeren Gesamtdarstellungen und ganzen Landschaften. Es ist ein sehr einfaches episches Gedicht und erzählt die Geschichte eines historischen Zeitabschnitts, der bis heute und gerade heute wieder von Bedeutung für uns ist. Atmosphärisch geprägt ist es von den Jahren des Zweiten Weltkriegs, in dem die Türkei eine besondere Rolle spielte: Sie kämpfte zwar nicht mit, aber die Folgen des Krieges waren im Land sehr wohl zu spüren. In dem Buch wird auch deutlich, dass die Türkei in Befürworter und Gegner Hitlers gespalten war. Der Krieg um die Unabhängigkeit in den frühen 20er-Jahren, in dem Verbände unter Atatürk gegen die Engländer und andere Kolonisatoren gekämpft hatten, wirkte immer noch nach. Es entsteht das Bild der Türkei als Grenzland zwischen Europa und der östlichen Welt, in dem viele Geschichtserzählungen und komplizierte Verhältnisse aufeinanderprallen. All das empfand ich als Herausforderung, mich mit diesem Material zu befassen.
ED: Ohne Zweifel ist der Humanismus ein Grundpfeiler des Werks. Interessant finde ich, dass du in Reaktion auf deine vorhergehende Auseinandersetzung mit der digitalen Welt darauf zurückgekommen bist. Kannst du das erklären? Ist der Humanismus eine Leerstelle im zeitgenössischen Kulturschaffen, und hast du dich auch deshalb den Menschenlandschaften zugewandt?
MV: In den vergangenen fünf Jahren habe ich hauptsächlich mit den Techniken von heute und morgen in die Zukunft geschaut. Seither wende ich mich unter dem Motto „alte Erzählungen, neues Lesen“ anderen Themen zu. Mich interessiert jetzt umgekehrt die Frage, was wir von Erzählungen aus der Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft lernen können. Ich glaube nicht, dass meine ganze Erforschung des Digitalen im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Text von Nâzim Hikmet in der Versenkung verschwinden wird. Dennoch gibt zumindest aus meiner Sicht der gesamte Diskurs rund um die digitale Welt und unsere Verkörperung des Digitalen nichts mehr her. Irgendwo habe ich gelesen, dass wir einerseits die technologisierte Kriegsführung vorantreiben, andererseits irgendwann wohl wieder so weit sind, dass wir mit nackten Fäusten aufeinander losgehen. Darin steckt für mich eine gewisse Wahrheit.
ED: Und nun arbeitest du mit einem Roman, der ebenfalls sehr filmisch und beinahe in einer Montagetechnik geschrieben ist. Was waren deine ersten Ideen für die szenische Umsetzung?
MV: Der Text ist an sich schon sehr stark. Dementsprechend halte ich mich selbst eher zurück. Nur einige grundsätzliche Entscheidungen waren zu treffen. Eine davon war, mit sehr jungen Körpern, also Tänzerinnen und Tänzern zwischen 18 und 24 Jahren zu arbeiten. Diese Generation ist zu jung, um das Textmaterial zu verstehen. Vielleicht bin auch ich selbst noch zu jung, um es im vollen Sinn zu verstehen. Vielleicht tue ich nur so, als verstünde ich es, und beginne einen Prozess, bei dem ich erst durch das Machen, in der Verkörperung, allmählich zu verstehen beginne. Je älter die Darsteller*innen werden, je mehr sie vom Leben mitbekommen haben, umso mehr wird der Text vielleicht auf sie wirken. Dieses Verkörpern älterer Dokumente interessiert mich sehr. Eine zweite Grundsatzentscheidung war, dass meine Inszenierung der Vorstellung viel Raum lassen wird. Das Gedicht spricht für sich selbst, und ich will es nicht einfach szenisch bebildern. Der Raum wird leer und irgendwann auch fast völlig dunkel sein. Das Publikum muss sich die Bilder und das Geschehen selbst ausdenken. Genau so ging es mir selbst beim Lesen der Menschenlandschaften: Im Kopf entsteht ein Schauplatz und ein Geschehen, man sitzt mit den Leuten im Zug. Stellenweise übernimmt sogar der Text den Rhythmus des Zuges, sodass dieser Rhythmus uns völlig zu durchdringen beginnt. Ich will mich beim Inszenieren auf den Text verlassen und ihn mit so wenigen Eingriffen wie möglich – aber auch so anregend für die Fantasie wie möglich – in eine Performance übertragen.
Mir geht es in diesem Zusammenhang um eine Vorstellungskraft, die sich an der Geschichte und am Nachdenken über die Vergangenheit entzündet, aber auch an deren Relevanz für die Gegenwart. Angesichts des Aufstiegs rechtsextremer Parteien auch in Wien scheint mir der Text sehr brisant. Er handelt vom Geist des Zweiten Weltkriegs und am Rande auch vom Faschismus. Das erste Buch ist stellenweise sehr finster, und die Kriegserlebnisse, von denen die Leute darin erzählen, sind harter Stoff. Wir hier im Westen haben ein so bequemes Leben, dass wir solche Dinge aus dem Bewusstsein verdrängen. Literatur und Kunst können dazu beitragen, dass wir wenigstens erfahren, wie es anderswo war, und verstehen, wohin wir nie wieder zurückwollen.
ED: Wie wird das Publikum des steirischen herbstes reagieren, wenn es in dieser Aufführung mit Dingen konfrontiert ist, die sich in einem türkischen Zug des Jahres 1941 abgespielt haben? Sind die Menschenlandschaften ein Buch von universeller Gültigkeit?
MV: Ich benutze diesen Begriff eigentlich nie, denn ich halte ihn für problematisch. Dennoch beinhaltet der Vorgang des Erzählens immer die Hoffnung, dass er Menschen zur Besinnung auf ihre eigene Lebenslage bringt. Dafür braucht es keine Geschichte von universeller Gültigkeit. Jede Art von Erzählung, wie eigenwillig oder breit angelegt sie auch sei, scheint mir geeignet, um das Nachdenken über die eigene Situation in Gang zu bringen. Die Menschenlandschaften handeln von der Geschichte der Türkei, aber man muss diese Geschichte nicht kennen, um den Text zu verstehen. Letztlich geht es in dem Buch auch um die vielen einzelnen Erzählungen, aus denen es sich zusammensetzt: um die Anekdoten der Häftlinge oder auch ihrer Wärter. Sie geben uns zu verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein, und zwar in den Ausnahmeverhältnissen, unter denen Nâzım Hikmet das Buch geschrieben hat. Sein Werk beruht auf den Erzählungen der Menschen, mit denen er im Gefängnis saß.
ED: Sehr interessant ist, dass die Rahmenhandlung in einer Situation des Übergangs spielt. Die Häftlinge befinden sich nicht im Gefängnis, sondern in einem Zug. Das Land führt nicht eigentlich Krieg, aber der Krieg ist gegenwärtig. Das ist genau genommen auch unsere Situation: In Syrien und anderen Ländern finden zahlreiche Kriege statt. Wir sind zwar nicht dort, aber sie sind uns gegenwärtig.
MV: Als ich in einem Workshop mit der Arbeit an dieser Inszenierung begann, wurde mir eines klar: Wenn man nur wenig über die Türkei weiß und die türkischen Namen nicht wiedererkennt, entfaltet sich diese Geschichte in einem bodenlosen dritten Raum – sie schwebt durch Zeit und Raum. Die Menschenlandschaften sind ja nun keine Science-Fiction, aber man hat auch etwas davon, wenn man all die Namen und Orte nie zuvor gehört hat und sie einem deshalb abstrakt und ausgedacht erscheinen. Dann fiel mir auf, dass der Text mit der Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen spielt. Es herrscht ein Machtverhältnis zwischen den Wärtern und den Häftlingen im Zug, das bisweilen kippt. Am Ende sind diese Menschen nicht nur Herrscher und Beherrschte, sondern sie sprechen auch miteinander von Mensch zu Mensch.
Katalin Erdödi: Mich würde nun interessieren, wie du an die Inszenierung als solche herangegangen bist. Du bist als Choreograf tätig und auch als solcher ausgebildet. Du hast von der bewussten Entscheidung gesprochen, mit jungen Körpern zu arbeiten, und die Menschenlandschaften werden von ihnen als literarischer Text interpretiert. Aber wie ist deine choreografische Sicht dieses Geschehens, das ja nicht notwendig auf den Körper beschränkt bleiben muss?
MV: Der Text selbst ist sehr filmisch und hat eine gewisse inszenatorische Eigenbewegung: Nahaufnahmen, Schnitte, Wiederholungen usw., also Strategien, die z.B. in der Choreografie oder auch in der Musik ganz ähnlich eingesetzt werden, auch wenn sie vielleicht anders heißen. Und doch ist da noch mehr als der Text. Da sind die Körper der Schauspieler*innen und des Publikums, das zwischen ihnen verteilt sitzt. Gemeinsam ergeben sie eine Landschaft innerhalb des Raums, in dem sie sich versammeln. Ich stelle mir eine fortlaufende, sehr langsame Choreografie vor – ein Muster, das die Darsteller*innen sehr gemessenen Schrittes abarbeiten. Ebenso folgt das Publikum seiner eigenen Logik. Es gibt keine festgelegte Publikumsbeteiligung. Man kann sitzen oder sich hinlegen. Die Leute wechseln aus eigenem Antrieb ihre Haltung. Ich bin gespannt auf die Landschaften, die alle diese Körper gemeinsam hervorbringen werden.
ED: Bei unserem ersten Treffen hat mich sehr beeindruckt, dass du beim Reden über deine Kunst kein einziges Mal das Wort „Körper“ verwendet hast. Jetzt benutzt du es, aber mehr in dem Sinn, dass der Körper ein Mittel zur Verwirklichung von etwas anderem ist.
MV: Das habe ich vom Filmemacher Robert Bresson gelernt. Er betrachtete seine Schauspieler*innen als seine Modelle und ließ sie sein Material vorführen. Er benutzte die Körper, mit denen er arbeitete, als Instrumente. Und doch gelang es ihm, dem Publikum einen gefühls- und verstandesmäßigen Bezug zu seinen Figuren zu entlocken. Für mich geht es in diesem Stück und in der experimentellen Gegenwartskunst allgemein nicht darum, Gemütslagen durchzukauen und sie stellvertretend für das Publikum zu empfinden. Körper können ebensogut Leinwände sein, auf die das Publikum die eigenen Empfindungen projiziert. Nicht ich projiziere meine Gefühle auf dich als Zuschauerin, sondern du selbst entwickelst das Bedürfnis, deine Gefühle auf das vorgeführte Material zu projizieren. Das wollen viele Menschen nicht. Daher dominiert auf den Bühnen heute so sehr die reine Unterhaltung, die einem vormacht, was man denkt, will, fühlt. Ich arbeite in die entgegengesetzte Richtung. Bei mir arbeitet das Publikum, weil es für sich selbst denkt und fühlt. Ich bediene niemanden. Deshalb sind die Darsteller*innen, mit denen ich arbeite, Instrumente, oder Modelle, wie Bresson sagen würde, die mein Material vermitteln. Das ist keineswegs ein streng rationaler Zugang zum Körper, sondern durchaus auch ein äußerst gefühlsstarker. Nur dass du dir als Zuschauerin das selbst erarbeiten musst.
KE: Die Menschenlandschaften gelten als Versepos. Du inszenierst das Gedicht in einem sehr privaten, ganz und gar nicht repräsentativen Rahmen. Es gibt keinen vorherrschenden Gesichtspunkt, sondern eher eine Streuung der Perspektiven. Nach der Beschreibung deiner Arbeitsweise zu urteilen, wird die Bühne ein in sich geschlossener, gleichzeitig aber auch sozialer Raum sein. Ich frage mich, welchen Stellenwert das Epos darin für dich hat. Höchstens 50 bis 70 Menschen haben in deiner Aufführung Platz. Das sind sehr wenige im Vergleich zu anderen Aufführungen darstellender Kunst.
MV: Interessanterweise setzt du in deiner Frage voraus, dass „episch“ gleich „groß“ bedeutet. Die Menschenlandschaften gelten als Epos, aber sie sind zugleich ein sehr persönliches und intimes Werk. Episch ist, was man daraus macht. Wenn man der Erzählung zuhört und sich die eigene Fantasie daran entzündet, kann ein epischer Bezug zum Text entstehen. Die Entscheidung liegt beim Publikum. Bei der Inszenierung habe ich darauf geachtet, den besonderen Lebenslagen, in denen sich diese Menschen wiederfinden, möglichst nahe zu kommen.
KE: Mit dem Themenschwerpunkt „Volksfronten“ des diesjährigen steirischen herbstes stellt sich auch die Frage nach der politischen Bedeutung des Epischen als einer umfassenderen Form von Gemeinsamkeit. Nâzım Hikmet erschafft im Wesentlichen ein Gemeinwesen aus lauter Kleinstepisoden. Siehst du darin einen Bezug zu zeitgenössischen politischen Bewegungen oder Verhältnissen?
MV: Darauf habe ich wirklich keine Antwort. Du bringst den Begriff des Epos in Verbindung mit größeren Bewegungen im politischen Sinn. Ich bin mir nicht sicher, ob es hier einen wesentlichen Zusammenhang gibt. Die Menschenlandschaften erzählen eine groß angelegte Geschichte, jedoch anhand von einzelnen Anekdoten einzelner Personen. Mir scheint dieses Buch voller Brüche. Es erzählt nicht von einer starken Gemeinschaft, sondern von einem Gemeinwesen der Vielen. Was macht ihre Gemeinsamkeit aus? Schlicht und einfach, dass sie sich zur selben Zeit am selben Ort befinden, nämlich in diesem Zug, und dass sie einander ihre Lebensgeschichten mitteilen. Was sie verbindet, so könnte man sagen, ist die Tatsache, dass sie alle Menschen sind.
Der Zug fuhr durch Izmit.
Mitten durch den Markt.
Er verlor seine Ernsthaftigkeit,
wurde so etwas wie eine Straßenbahn.
Menschen, Häuser, Läden
drehten sich nicht mal um nach ihm.
Er konnte nicht einmal die Droschkengäule
— trotz seines Lärms —
aus den Träumen schrecken.
Und erst nachdem lzmit zurückblieb,
an diesem Mai-Nachmittag,
und er das Gebiet der einsamen Felder erreichte,
erhielt er seine alte Ernsthaftigkeit wieder zurück.
Er wurde wieder zum „Stiller der Sehnsucht", der Zug.
Im Wagen Nummer 510, dritter Klasse.
Die Stirn am Fenster,
fuhr eine verlorene Welt
durch ein Menschenherz hindurch.
Kirios Trastellis war aus dem „alten Griechenland".
Am Korinth-Kanal,
gegenüber der Stadt Patres
aus dem Hafen Mesolongi war er.
Phidias, Omirus, Aristoteles gingen ihn überhaupt nichts an.
Er war ein Mensch, der das Meer, die Hitze und die Menschenmenge liebte.
Und für Mihalis Trastellis gab es auf dieser Welt
nur Hummer und Kraken mit acht Armen zu bewundern.
Aus den Mannschaftskajüten der Fischkutter,
dem einstöckigen Haus im Hafen Mesolongi
und aus den Freunden bestand Griechenland in seinem Herzen.
Was ist aus Griechenland geworden?
Kirios Dimitrios Mihalis Trastellis.
Jetzt, im Jahre 1941,
im Mai,
das Meer, Griechenland und das Haus miteingepackt,
wohin willst du mit dem Pappkoffer?
Warum bist du auf dieser Welt ganz allein geblieben,
durcheinander gebracht worden?
Die Freunde wurden ermordet.
Am Meeresgrund liegen die Fischkutter von Korinth.
Sie liegen da, wie Leichname in Glassärgen.
In diesem Jahr werden Hitlers Offiziere die Hummer essen.
Dein Vater in Athen
deine Mutter in Chios
deine Schwester in Alexandropolis
und du im Wagen Nummer 510, dritter Klasse.
Der Zug fährt durch die lzmit-Ebene.
In den Feldern, im Frühling so wie jetzt,
nachmittags so wie jetzt,
während die Helligkeit des Himmels sich wie ein Liebeslied beruhigt,
während die Schatten der Bäume,
bequem und kühl,
beginnen, auf der Erde länger zu werden,
während die Gräser mit ihren Vögeln, ihren Tieren, ihren Käfern
noch jünger,
noch wollüstiger,
noch grüner leben,
während die Pfützen sich faul und glücklich
wie Karpfen bewegen,
ist im Herzen des Menschen ein glückliches Klagen,
die Trauer darüber, dass man sich nicht auf dieser
heutigen Welt befindet.
Mihalis Trastellis schaut aus dem Fenster.
Aber diese Erde sagt ihm nichts.
Nicht, weil er ihre Sprache nicht kennt.
Im Frühling so wie jetzt, nachmittags so wie jetzt
ist weder Griechisch noch Türkisch,
sondern Erdisch die Sprache, die die Erde spricht.
Aber Mihalis war traurig.
Er war so traurig, dass er der Erde nicht zuhören
und nicht an die Menschen und an die Welt denken konnte.
Aber hier in diesem Wagen, an diesem Nachmittag
lag es an den Menschen und an der heutigen Welt,
dass er traurig war.
Von Michiel Vandevelde ausgewählte Auszüge aus: Nâzım Hikmet, Menschenlandschaften, Erstes Buch, ins Deutsche übersetzt von Ümit Güney und Norbert Ney (Hamburg: Buntbuch Verlag, 1980).