Der steirische herbst am Höhepunkt des Kalten Kriegs
6.6.25 / Herwig G. Höller

Peter Vujica, Palais Attems, Graz, 1980er, Foto: Archiv steirischer herbst / Peter Philipp
In diesem Blog berichtet steirischer herbst-Research Fellow und Journalist Herwig G. Höller über seine Entdeckungen im Festivalarchiv. Sie offenbaren oft überraschende Verbindungen zwischen dem steirischen herbst und der Welt der – lokalen wie internationalen – Politik.
1983 schrammte die Welt womöglich knapp an einem Atomkrieg vorbei. Es gab Fehler in einem sowjetischen Frühwarnsystem, und die NATO-Militärübung Able Archer 83 hatte das Potenzial, vom Kreml als Vorbereitung eines Erstschlags missverstanden zu werden.
Im steirischen herbst hat diese angespannte Lage keine unmittelbaren Spuren hinterlassen. Das Festivalarchiv dokumentiert jedoch, dass just in diesem Jahr sowohl Ost als auch West Soft-Power-Bemühungen verstärkten: Auf offizielle Einladung reiste Intendant Peter Vujica (1937–2013) sowohl in die Sowjetunion als auch in die USA. Am Festival interessiert waren auch das Institut français sowie BRD und DDR. Trotz dieser Avancen flossen 1983 keine Subventionen ausländischer Staaten ins Programmbudget, Geld gab es nur für Informations- und Studienreisen.
Sowjetunion
Laut einer Reisekostenauflistung hielt sich Vujica zwischen dem 22. Mai und 1. Juni 1983 in der Sowjetunion auf. „Auf Anregung der sowjetischen Botschaft wurde ich zu einer Informationsreise Moskau – Leningrad – Erivan – eingeladen […]. Das [österreichische] Außenministerium trägt die Flugkosten, die sowjetischen Behörden die Nächtigungskosten, die österreichische Botschaft die Reisekosten innerhalb der Sowjetunion, auf mich entfallen Tagsätze“, hatte er kurz vor Reiseantritt den Kulturlandesrat und Festivalpräsidenten Kurt Jungwirth informiert.
Detaillierte Reisepläne finden sich in einem Schreiben vom 15. April. Dem sowjetischen Botschafter in Wien, Jewgeni Blochin, dankte der Intendant für ein „schönes und wie ich hoffe folgenreiches Gespräch“. In einem Brief an den Vorsitzenden des sowjetischen Komponistenverbands, Tichon Chrennikow, der als Gastgeber fungierte, erinnerte Vujica daran, dass er gemeinsam mit dem Komponisten Wilhelm Zobl anreisen würde.

Peter Vujica an Tichon Chrennikow, 15. April 1983, Archiv steirischer herbst
„Wie Sie vielleicht nicht wissen, leite ich den Steirischen Herbst, eine Veranstaltungsreihe, die sich ausschließlich mit Gegenwartskunst aller Sparten beschäftigt. Aus diesem Grunde bin ich nicht nur an Kontakten mit Vertretern der zeitgenössischen Musik interessiert, sondern auch mit den zuständigen Herren auf dem Gebiete der Malerei und der Kulturpolitik“, schrieb er. Genannt wurden der Vorsitzende des Künstlerverbands, Tair Salachow, der Leiter der staatlichen Konzertagentur, Wjatscheslaw Kondraschow, sowie Vizekulturminister Juri Barabasch.
Informationen über konkrete Treffen finden sich im Archiv nicht. Es sind auch keine Auswirkungen auf das Festivalprogramm erkennbar. Womöglich dachte Vujica in Richtung Konstruktivismus, der sich – so ein Ausstellungskonzept von 1983 – trotz der Emigration seiner wichtigsten zeitgenössischen Vertreter Ernst Neiswestny und Lew Nussberg in Russland erhalten habe. Gleichzeitig verwundert die briefliche Anbiederung an Chrennikow, ein Gegner der vom musikprotokoll forcierten Neuen Musik. Vujica musste auch wissen, dass ausgerechnet dieser Kulturfunktionär – in Grazer Sichtweise – die Anwesenheit sowjetischer Komponist:innen beim steirischen herbst ’81 verhindert haben soll.
USA
Spendabler als die Sowjets zeigten sich die USA: Vujica verbrachte 1983 dort insgesamt 44 Tage, wobei die US-Botschaft jeweils für die Reisekosten aufkam. Nach seiner ersten Reise erzählte er der Kleinen Zeitung von Stationen in Washington, New York, Los Angeles, San Francisco, Phoenix und Santa Fe.
Unerwähnt blieb, dass dabei Jerome Margolius eine wichtige Rolle gespielt hatte, ein Veteran der für Auslandspropaganda zuständigen United States Information Agency. Margolius betreute wiederholt Schlüsselfiguren der internationalen Kulturszene bei US-Aufenthalten, darunter Dmitri Schostakowitsch und Jewgeni Jewtuschenko.

Peter Vujica an Jerome Margolius, 12. April 1983, Archiv steirischer herbst
In einem Brief vom 12. April 1983 bedankte sich Vujica für nicht näher erläuterte Mühen Margolius’: „Ich glaube aber dennoch, dass die Reise für mich insgesamt sehr erfolgreich war, weil ich Kontakte zu Künstlern herstellen konnte, die hier [in Österreich] völlig unbekannt und selbst innerhalb der USA nur Insidern bekannt sind.“ Für den steirischen herbst ’84 angedachte Projekte wie eine Ausstellung zu Westküstenmalerei oder „indianischer“ Kunst sowie ein Auftritt der Merce Cunningham Dance Company wurden jedoch nicht realisiert. Trotz freundlichen Briefkontakts mit der neuen Botschafterin Helene von Damm sowie Kulturattaché Cynthia Miller konnten auch kaum Subventionen lukriert werden.
Manche der Bemühungen, die österreichisch-amerikanischen Kulturbeziehungen zu vertiefen, gingen auch von Graz aus: Landeshauptmann Josef Krainer junior reiste im Mai 1983 in die USA, traf dort Vertreter:innen von wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen und verpflichtete unter anderem den steirischen herbst, diese Kontakte weiterzuentwickeln. Er wünschte sich etwa eine intensive Zusammenarbeit mit dem Soziologen Richard Sennett und dessen New York Institute for the Humanities. Im August 1983 kam Sennett für ein Arbeitsgespräch nach Graz; ein Protokoll macht deutlich, dass er nahezu wie ein Staatsgast empfangen wurde. Aus der Zusammenarbeit wurde jedoch nichts, Sennett trat lediglich beim Literatursymposium 1984 auf. 2025 konnte er sich auf Nachfrage auch nicht an diese folgenlose steirische Episode erinnern.

Peter Vujica an Fred Croton, 3. August 1983, Archiv steirischer herbst
Auf Krainer gingen auch Kontakte zum Leiter der Kulturabteilung der Stadt Los Angeles, Fred Croton, zurück. Er reiste zwischen 1983 und 1985 trotz „finanziellen Bauchwehs“ von Vujica wiederholt auf Kosten des steirischen herbst nach Graz.
Croton wurde hier hofiert, steirischen Medien als wichtiger Freund des Festivals präsentiert und großartig überschätzt. Obwohl der Bürokrat 1985 in interne Streitereien verwickelt war, über die die Los Angeles Times ausgiebig berichteten, fand zwischen 16. Juli und 6. August 1985 tatsächlich eine Ausstellung des steirischen herbst in der Los Angeles Municipal Art Gallery statt. Zudem wurde in diesem Jahr die vom Festival koproduzierte Reihe Beyond the Sound of Music mit einer stolzen Sondersubvention des Landes Steiermark in New York verwirklicht.
Frankreich, BRD und DDR
Nicht nur die zwei Supermächte intensivierten ihre Soft-Power-Bemühungen: Peter Vujica nahm 1983 auch eine Einladung des Institut français nach Paris an. Die DDR zeigte sich ebenfalls interessiert. Der Direktor des Zentrums für Kunstausstellungen, Gregor Schneider, habe ihm mitgeteilt, dass sich die DDR am steirischen herbst ’83 beteiligen werde und um Bekanntgabe des Jahresmottos ersucht, informierte der österreichische Kulturattaché Artur Kremsner am 12. Jänner 1983 den Intendanten. Dieser reiste im Februar nach Berlin und organisierte ein Gastspiel des Westberliner Schillertheaters, mit Sławomir Mrożeks Der Botschafter und Wladimir Majakowskis Tragödie (in der Übersetzung des Ostberliners Heiner Müller).
Direkte Kontakte gab es auch zur bundesdeutschen Botschaft, die laut Jahresbilanz jedoch finanziell folgenlos blieben. Als Sponsoren des Gastspiels sprangen schließlich der Styria-Verlag und Stiefelkönig ein.