Kurt Jungwirth (1929–2025): Fünf Jahrzehnte mit dem steirischen herbst
9.5.2025 / Herwig G. Höller
In diesem Blog berichtet steirischer herbst-Research Fellow und Journalist Herwig G. Höller über seine Entdeckungen im Festivalarchiv. Sie offenbaren oft überraschende Verbindungen zwischen dem steirischen herbst und der Welt der – lokalen wie internationalen – Politik.

Kurt Jungwirth (zwischen Bundespräsident Rudolf Kirchschläger und Vizebürgermeister Franz Hasiba) bei der Eröffnung des steirischen herbst ’79, Foto: Archiv steirischer herbst / Peter Philipp
Zuerst wollte ich beteuern, wie unheimlich wichtig es […] ist, die zerbrechliche Pflanze des Steirischen Herbst gegen alle Intoleranz und Borniertheit in unserer Umgebung zu verteidigen.
—Kurt Jungwirth, 1983
Nach der Fernsehausstrahlung von Wolfgang Bauers Theaterstück Gespenster hatte sich 1975 eine rechtskonservative Clique auf den steirischen herbst und dessen Gründer Hanns Koren eingeschossen. Die progressive Kunstszene und ihre Unterstützer:innen wehrten sich: Am 11. Dezember 1975 hielt ÖVP-Politiker Koren – der Präsident des steirischen herbst war gleichzeitig Landtagspräsident – eine viel beachtete Rede, in der er vehement die Freiheit der Kunst verteidigte.
Weniger Aufmerksamkeit erhielt – zu Unrecht – jene Rede, die ÖVP-Kulturlandesrat Kurt Jungwirth unmittelbar nach Koren hielt. Der frankophile Liberale gab sich in Bezug auf die Kritiker des Festivals versöhnlicher: Die einen als „Linke“ und „Destruktive“ und die anderen als „Reaktionäre“ und „Faschistoide“ zu bezeichnen, sei falsch. In der Sache vertrat Jungwirth jedoch Korens Haltung: „Wer nach dem Zensor in der Kunst ruft, der ruft indirekt auch nach dem Zensor in der Politik“, sagte er und erklärte, dass in einer westlichen Demokratie lediglich „unsere Selbstzensur“ zulässig sei.
Diskret im Hintergrund agierenden ÖVP-Granden gefiel dieser Auftritt offensichtlich: Ein paar Tage später sei Jungwirth gebeten worden, die Präsidentschaft des steirischen herbst zu übernehmen, schreibt Koren-Biograf Kurt Wimmer. Am 9. März 1976 trat Koren zurück und am 22. März beschloss die steiermärkische Landesregierung, Jungwirth auf dessen eigenen Antrag zum Präsidenten zu bestellen. Dreißig Jahre lang sollte er in der Folge eine Schlüsselrolle für das Festival spielen.

Kurt Jungwirth, seine Ehefrau Marie-Louise Jungwirth und Hanns Koren bei der Eröffnung des steirischer herbst ’76, Foto: Archiv steirischer herbst / Peter Philipp
Aktiv war Jungwirth freilich schon seit 1970 gewesen, als der politische Quereinsteiger Koren als Kulturlandesrat abgelöst hatte. Im Festivalarchiv haben seine Aktivitäten deutliche Spuren hinterlassen. Er werde im Kuratorium das berechtigte Anliegen zur Diskussion stellen, Jazz ins Programm aufzunehmen, schrieb er im Dezember 1970 an Dieter Glawischnig. Einen größeren Jazzschwerpunkt gab es erst einige Jahre später. Mit Ausnahme der Steirischen Akademie, die direkt vom Büro des Kulturlandesrates organisiert wurde, drängte sich Jungwirth inhaltlich nicht auf.
Im Jahr 1974 war es insbesondere Jungwirth, der sich nach Jahren einer eher halblegalen Existenz des Festivals für einen Vertrag zwischen Land Steiermark und Stadt Graz einsetzte und damit maßgeblich zu institutionellen Verankerung des steirischen herbst beitrug. Besonders wichtig war ihm – auch als Kulturlandesrat – die Berücksichtigung der ganzen Steiermark: „Jungwirth betont die Notwendigkeit, dass der Steirische Herbst nicht wieder ein Grazer Herbst wird, dass also die Beteiligung der Bezirke gesichert bleiben muss. Für Veranstaltungen in den Bezirken haben auch nicht internationale Maßstäbe zu gelten“, heißt es im Protokoll einer Sitzung vom 13. Jänner 1975.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft schien Jungwirth ein „Intendanturprinzip“ für ein Mehrspartenfestival unpassend. Zwischen 1983 und 2005 unterstützte er jedoch vier Intendant:innen nach Kräften und beschränkte sich nicht nur auf die Genehmigung von Dienstreisen, die in den Statuten vorgesehen war (solche Schreiben machen einen großen Teil von Jungwirths Korrespondenz im Festivalarchiv aus).
Bis 1991 war Jungwirth Kulturlandesrat und konnte über Subventionen bestimmen. So ermöglichte er wiederholt größere Produktionen beim steirischen herbst. „Landesrat Jungwirth übernimmt die Ausfallshaftung für die Uraufführung von Jelineks Nora im Schauspielhaus, in Höhe von S 280.000 – zusätzlich zur vom Land zugesagten Gesamtsubvention [für das ganze Festival, Anm.] von 1,8 Millionen“, notierte etwa Generalsekretär Paul Kaufmann am 19. Dezember 1978.
Rückendeckung gab er auch brisanten Projekten, etwa Werner Fenz’ Bezugspunkte 38/88 zu Grazer NS-Vergangenheit, bei dem er am 15. Oktober 1988 im Landhaushof eine der Eröffnungsreden hielt.

Kurt Jungwirth bei der Eröffnung des steirischen herbst ’92, Foto: stefanharing.com
Seine traditionelle Rede zur Eröffnung des Festivals verwendete er gerne für erfrischende Kommentare zum Zeitgeschehen. Als Präsident des steirischen herbst wurde er gleichzeitig nur selten wirklich polemisch. Ein im Festivalarchiv befindlicher Brief vom 21. September 1983 an den Chefredakteur der Kleinen Zeitung, Fritz Csoklich, stellt eine rare Ausnahme dar. Die Grazer Tageszeitung, die den steirischen herbst zumeist wohlwollend begleitete, hatte zwei Tage zuvor unter dem Titel „Die Schlacht ums kalte Buffet“ einen Beitrag veröffentlicht, der mit Fotos von sich am Eröffnungsbuffet eifrig bedienenden Politikern illustriert war. Ihre Augen waren mit schwarzen Balken abgedeckt, unter anderem Jungwirth war aber problemlos erkennbar.
Der Kulturlandessrat erwiderte darauf:
Zuerst wollte ich beteuern, wie unheimlich wichtig es nicht nur ist, die zerbrechliche Pflanze des Steirischen Herbst gegen alle Intoleranz und Borniertheit in unserer Umgebung zu verteidigen, sondern dass wir auf ihn in Graz stolz sein sollten, da er in Österreich noch immer einzigartig mit allem seinem Drumherum ist als ein energischer Versuch, dieses Nest Graz aus seiner Ahnungslosigkeit, aus seinem Tiefschlaf zu wecken, sensibel und weltoffen zu machen und dieser Stadt und den Menschen, die in ihr leben, endlich einen Namen zu geben und damit das Selbstbewusstsein, das ihnen so dramatisch abgeht.
Der geistvolle Artikel, spottete Jungwirth, werde hoffentlich alle Festivalgäste, insbesondere aus dem Ausland, über das Format staunen lassen, das der Journalismus in Graz schlussendlich erreicht habe.
Jungwirths Verhältnis zur Kleinen Zeitung renkte sich schnell wieder ein. Wenige Tage später veröffentlichte das Medium ein freundliches Porträt des „nicht barocken Kulturpolitikers“. Die Causa wirkte jedoch nach: Als die Landesregierung 1984 vorschlug, dass Budget des Eröffnungsempfangs umzuwidmen, protestierte herbst-Intendant Peter Vujica: „Eine Aufgabe dieser Tradition würde zweifellos als Minderung der Sympathie seitens der Politiker fehl interpretiert werden“, schrieb er am 13. Juni 1984 an den Bürochef des Kulturlandesrates.
Auch nach seinem Rücktritt als Präsident 2006 blieb Jungwirth dem steirischen herbst freundschaftlich verbunden. Aktiv trat er ein letztes Mal am 13. Oktober 2019 in der Diskussionsveranstaltung Zur Dialektik von Genuss und Ideologie – Die Weinstraße zwischen Nazis und Putin auf. Hier begründete er seine besondere Sensibilität in Bezug auf Slowenien unter anderem mit seinem Kriegseinsatz in der von den Nazis besetzten Untersteiermark:
Im Februar 1945, als die Rote Armee bereits in Ungarn stand und sich auf Österreich, Großdeutschland, zubewegte, haben wir als Fünfzehneinhalbjährige noch in Rogaška Slatina, in Rohitsch-Sauerbrunn, im Kurhaus wochenlang auf dem Boden übernachtet und am sogenannten Südostwall des Deutschen Reiches geschaufelt. Diese Beschäftigung war völlig absurd. Der Winter war sehr hart, die Erde war gefroren und wir hatten nur Schaufel und Krampen,
erzählte er damals in einem bewegenden Auftritt, der angesichts aktueller Diskussionen über die steirische Landeshymne weiter an Aktualität gewonnen hat.